Existenzielle Ängste sind Ängste, die uns immer wieder begegnen – meist können wir erkennen, dass sie irrational scheinen oder unrealistisch. Nur, wir können sie nicht abschalten. Obwohl ich einen sicheren Beruf ausübe und ein gutes Einkommen habe, ist es nie genug. Zumindest nicht um die innere angstvolle Stimme in mir zu beruhigen. Obwohl ich in einer festen Beziehung lebe und mit meiner/em PartnerIn glücklich bin, beschleichen mich immer wieder Ängste des Verlustes. Obwohl meine Kinder kerngesund sind, befürchte ich Erkrankungen oder andere Arten von Verletzungen. Und so weiter und weiter und weiter…
Die wohl noch bedrohlichere Form der existenziellen Angst ist, dass sie an keine Menschen oder Situationen gebunden frei in mir schwingt, indem ich Vorahnungen habe und das Gefühl, es wird irgendetwas Schlimmes passieren oder geschehen und alles entweder (im einfachen Fall) verändern oder sogar im schlimmsten Fall, zerstören.
Je nach Tagesform oder auch Lebensmoment treten diese Ängste mehr oder weniger in Vorschein bzw. belasten mich mal mehr oder weniger. Was ihnen allerdings gleich ist, dass sie in mir einen festen Wohnplatz zu haben scheinen und sich wie ein Nachbar eben mal bemerkbar machen und mal verreist scheinen, da alles ruhig scheint. Dennoch merken wir, dass es noch da ist, denn ich kann den letzten Schritt in die Entspannung nicht tun, geschweige denn leben. Ich kann mich nicht in mich und mein Leben hinein entspannen mit der Gewissheit jetzt ist es gut und sicher. Darauf vertrauend, dass es das auch ist.
Wie der Begriff beinhaltet, knüpfen unsere aktuellen Gefühle hier an frühere Erfahrungen, in denen wir tatsächlich existenzielle Ängste gespürt und erfahren haben. Viele denken jetzt wohl an schlimme Traumata oder Erlebnisse, die dem zugrunde liegen müssen.
Dem muss nicht so gewesen sein. Denn, wir in unserem Selbstverständnis als Erwachsene haben meist das Gefühl verloren, dass wir als Kinder tatsächlich EXISTENZIELL ausschließlich in Abhängigkeit lebten und somit von unseren erwachsenen und uns versorgenden Bezugspersonen abhängig waren. Wir haben diese Sichtweise vergessen, verdrängt, verloren oder einfach nicht mehr in unserer Wahrnehmung. Aber das Embryo, das Baby, das Kleinkind, das Kind und sogar zuweilen sogar noch der Jugendliche brauchen sowohl die materielle und vor allem die emotionale Sicherheit der Beziehungen zu den Erwachsenen, die es versorgen. Andernfalls ist es je nach Altersstufe kaum bis gar nicht in der Lage für sich in angemessen Rahmen zu sorgen, so dass es überleben könnte. Selbst in einer Streitsituation hat es nicht die Möglichkeit herauszugehen. Und somit kann es schon gar nicht der täglichen Atmosphäre im Elternhaus „entkommen“. Das ist seine Welt. Ist diese wohlwollend, zugewandt und liebevoll, wunderbar. Herrscht allerdings darin Kälte, Ablehnung, Vernachlässigung, Kargheit, und vielleicht sogar Gewalt oder Hass, dann ist mehr ein Überleben als ein Leben darin möglich.
Vor diesem Hintergrund – zumal diese Jahre auch die Jahre sind, die uns in unserem So sein sehr prägen – erscheinen uns vielleicht unsere existenziellen Ängste gar nicht mehr irrational oder unlogisch. Vielmehr wäre es sogar eher ungewöhnlich, gar keine zu haben. Um den für uns angenehmen Umgang damit zu „erlernen“ braucht es für das in mir noch lebende innere Kind eine Achtsamkeit und ein Verständnis. Es will ernst genommen und gesehen werden in den noch unerlösten Konflikten, die es erleben musste und die immer noch in ihm leben. Verstehe ich hier meine Geschichte, meine möglichen Verletzungen und damit vor allem mich selbst, kann ich mein heutiges Leben selbstverantwortlich nach meiner ureigenen Vorstellung gestalten. Denn erst, wenn etwas sichtbar ist, können wir es sehen, danach greifen und es verändern. Wir sind unseren Ängsten weder hilflos ausgeliefert noch fallen diese als Schicksal vom Himmel. Es gibt eine Ursache für sie und diese kann ich nun mit heute mir anderen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten finden und im Idealfall sogar verändern.
Sehr schön zu diesem Hintergrund finde ich die
Geschichte „Der angekettet Elefant“ aus dem Buch von Jorge Bucay „Komm ich erzähle Dir eine Geschichte“:
„Du kannst nicht? Bist du sicher?
Na dann, lass dir mal eine Geschichte erzählen. Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem hat es mir der Elefant angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einem kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nicht weiter als ein winziges Stuck Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich außer Zweifel, dass ein Tier, dass die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte. Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute.
Was hält ihn zurück?
Warum macht er sich nicht auf und davon?
Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil er dressiert sei. Meine nächste Frage lag auf der Hand: „Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?“
Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel des Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal gestellt hatten. Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden: Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er seit frühester Kindheit an einem solchen Pflock gekettet ist. Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu tief in der Erde steckt. Ich stelle mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten… Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der ärmste glaubt, dass ER ES NICHT KANN.
Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimmste dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat.
Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.“